17. September 2011

Kinder- und Jugendbilder

Ich habe eben nochmal mein einziges Fotoalbum durchgeblättert. Und ich habe mich gefragt, was aus meinem Leben geworden ist bzw. was ich daraus gemacht habe. Spontane Antwort: "Recht wenig". Habe ich aus meinem Leben wirklich so wenig gemacht? Wenn es um finanziellen und materiellen Erfolg im Berufs- und Privatleben geht, stimmt die Antwort. Über Jahrzehnte hinweg habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können, dass ich mal arbeitslos sein würde. Und auch heute noch kann ich es mir im Grunde gar nicht vorstellen, weil ich immer engagiert gearbeitet habe und immer noch über Qualifikationen und Kompetenzen verfüge, über die sich jeder Arbeitgeber und auch Kolleginnen und Kollegen freuen müssten. Doch das ist die Theorie. Die Praxis sieht genau gegenteilig aus.

Vom materiellen Leistungs- und Erfolgsdenken her bin ich ein Versager. Doch von meinen menschlichen Kompetenzen und meinen Fähigkeiten her, auch nach 21 Jahren Arbeitslosigkeit noch nicht unter die Räder gekommen zu sein, bin ich ein Erfolgsmensch. Seine Langzeitarbeitslosigkeit annehmen zu müssen und sich in ihr – wie auch immer – einrichten zu können, verlangt immer wieder ein Höchstmaß an Leistung. Schon so manches Mal habe ich gedacht, ich gebe besser auf und ziehe mich ganz von den Menschen zurück oder springe von der Brücke. Doch selbst wenn ich das wollte, ich könnte es gar nicht, weil mein Lebensmuster ganz anders gestaltet ist.

Die meisten Bilder habe ich von der Zeit, als ich mich noch hauptsächlich in der Waagerechten bewegt habe. Dann kommen Bilder mit meiner Mutter und meinem Vater. Offensichtlich gab es schon eine Zeit in meinem Leben, in der körperliche und Nähe überhaupt eine Rolle gespielt haben. So gibt es auch ein Bild, auf dem mein Bruder und ich uns das einzige Mal in meinem Leben umarmen. Und auch mein Opa mütterlicherseits ist auf einem Foto. Leider ist dieser Mensch viel zu früh gestorben. Ich glaube, ich war nicht einmal fünf Jahre. Mein Opa verkörpert für mich heute noch den Menschen, den ich mir immer gewünscht habe und noch wünsche: Ein Mensch, einige Jahrzehnte älter als ich, der mich in meinem Leben vollkommen offen und ehrlich begleitet und ein uneingeschränkt verlässlicher Freund ist, der mich an seiner Weisheit des Lebens teilnehmen lässt und mit dem ich auch viele entspannende und schöne Stunden leben kann.

Und noch ein Bild fällt mir ins Auge: Mein Bruder und ich im Partnerlook mit gestrickten Hosen, die durch Hosenträger gehalten werden und die bis in Brusthöhe gehen. Ich weiß noch, dass ich diese Hosen schon damals ätzend fand. Ein Bild von meinem Onkel Erich ist auch dabei. Doch habe ich ihn nie kennen lernen dürfen, weil er im Krieg ermordet worden ist. Nach diesem Onkel habe ich meinen zweiten Vornamen. Auch ein Bild von einem Kinderurlaub in Österreich ist darunter. Ich hatte solches Heimweh, dass ich abgehauen bin und zu Fuß nach Hause laufen wollte. Glücklicherweise habe ich mich dann doch noch mit den anderen Kindern wohl gefühlt.

Es gibt Menschen, die im Alter keine Angst vor dem Tod haben, weil ihr Leben für sie ausgefüllt war. Oft finden sie noch die Zeit, sich von ihnen nahestehenden Menschen zu verabschieden und ihnen aus ihrem Leben noch – im übertragenen Sinn - schöne Andenken mitzugeben. Wenn ich nicht eines Tages sanft für immer einschlafen sollte, könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass ich bis zuletzt um mein Leben kämpfen werde. Andererseits – wenn ich bedenke, dass ich 120 Jahre alt und weise werden will, so habe ich gerade erst einmal mein halbes Leben gelebt und wer weiß, was die nächsten 60 Jahre noch so alles bringen.

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