11. Mai 2011

Die große Reise eines Lebens (Aktualisierung)


Aktualisierung vom 19.05.2011: Heute habe ich meine Mutter besucht. Die Stimmung war entspannt, so dass ich sie fragen konnte, ob sie Angst vor dem Tod habe. Sie antwortete mir, das sei sehr unterschiedlich: Wenn es ihr gut gehe, würde sie gerne noch lange leben. Ginge es ihr schlecht, wünsche sie sich den baldigen Tod. Und sie möchte nicht ruhig entschlafen und auch keinen qualvollen Tod haben. Vielmehr möchte sie nicht langsam sterben, sondern kurz und ohne Qualen - sozusagen noch eine kurze Zeit des Abschieds haben wollen.

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Die Zitate in diesem Eintrag habe ich dem Buch von Tiziano Terzani "Das Ende ist mein Anfang" entnommen (ISBN 978-3-421-04292-7):
" Orsigna, den 12. März 2004

Mein lieber Folco,

Du weißt, wie ungern ich telefoniere und wie schwer es mir meine schwindenden Kräfte machen, selbst wenige Zeilen zu Papier zu bringen. Daher ist dies kein richtiger Brief, sondern ein "Telegramm" mit zwei, drei Punkten, die mir noch wichtig sind und die Du wissen sollst.
Ich bin entsetzlich schwach, aber heiter und gelassen. Ich liebe dieses Haus und rechne damit, bis zum Ende hier zu bleiben. Ich hoffe, Dich bald zu sehen, aber nur unter der Bedingung, dass Du mit Deiner Arbeit fertig geworden bist. Denn bist Du erst einmal hier, wird Dich (uns) alles andere vollkommen in Anspruch nehmen, besonders wenn Du Dich auf eine Idee einlässt, über die ich lange nachgedacht habe. Und zwar folgende: Wie wäre es, wenn wir zwei uns jeden Tag eine Stunde zusammensetzten und Du mich fragtest, was du schon immer fragen wolltest, und ich Dir frei von der Leber weg erzählte, was mir wichtig ist, von mir und meiner Familie, von der großen Reise des Lebens? Ein Austausch zwischen uns beiden, Vater und Sohn, so verschieden und einander doch so ähnlich, ein Testament, das Du dann zu einem Buch zusammenstellen könntest.
Beeil dich, denn ich glaube, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Sieh zu, wie Du es einrichten kannst, und ich werde mir Mühe geben, noch eine Weile zu leben, um dieses wunderschöne Projekt mit Dir zu verwirklichen, wenn Du Lust dazu hast.

Ich umarme Dich.
Dein Papa"

Vater Tiziano und Sohn Folco nehmen sich drei Monate Zeit für dieses im wahrsten Sinne des Wortes wunderschöne Projekt. Es wird ein Austausch zwischen zwei eigenständigen und einander sehr vertrauten Menschen, die ohne Scheu miteinander reden können.

Eine solche Offenheit und Vertrautheit habe ich mir immer mit meinen Eltern gewünscht, doch nie verwirklichen können. Mit Sicherheit habe auch ich einiges falsch gemacht und anderes übersehen, war zu ungeduldig und zu eigensinnig.

Mit meinem Vater - der leider im Oktober 1999 gestorben ist - hätte ich es mir gut vorstellen können, weil mein Vater von Typ her aus meiner Sicht sein Leben lockerer und menschlicher gelebt hat als meine Mutter. Das ist weder ein Lob für meinen Vater noch eine Kritik an meiner Mutter, weil beide ihre Geschichten hatten und auch eine gemeinsame Geschichte als Ehepaar und Eltern. Zumindest die ganz persönlichen Geschichten meines Vaters wie meiner Mutter hätte ich sehr gerne erfahren. Und hätte bestimmt voller Spannung und Neugier zugehört und hinterfragt.

Ein solch wunderschönes Projekt wie eingangs geschildert wird mit meiner Mutter nicht zu verwirklichen sein. Das Lesen des Buches hat mich glücklicherweise angeregt, darüber nachzudenken, wie ich meine Neugier dennoch wenigstens in Grundzügen verwirklichen kann. Bei einem meiner nächsten Besuche - wenn die Stimmung zwischen mir und meiner Mutter entspannt ist - will ich sie fragen: "Sag mal, Mutti - hast du Angst vor Deinem Tod?" Und ich würde mich riesig freuen und es würde mich glücklich machen, wenn ich noch das ein oder andere aus der Gedanken- und Gefühlswelt meiner Mutter erfahren dürfte.
"Als der Journalist und Schriftsteller Tiziano Terzani spürt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, setzt er sich noch einmal mit seinem Sohn Folco zusammen - um gemeinsam mit ihm zurückzublicken auf ein reiches Leben und um bewusst Abschied zu nehmen. Ein wunderbares Gespräch über das Wagnis der Freiheit, über Mut, Liebe, Krankheit und Trauer, über die Vergänglichkeit, Momente der Schönheit und darüber, wie man lernt loszulassen."

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